Der Hang zum Gesamtkunstwerk (Ein modernes Gesamtkunstwerk)

Einleitung

Bei den aufwändig produzierten Musikvideos der Band Rammstein musste ich unweigerlich an eine Hausarbeit denken, die ich Ende 2007 während des Designstudiums an der Fachhochschule Düsseldorf (heute: Hochschule Düsseldorf) im Fach Medientheorie geschrieben habe. Mit diesem Blogbeitrag möchte ich einerseits die damals verfasste Hausarbeit wiederbeleben und dauerhaft für kunstinteressierte Leser zugänglich machen, andererseits die damals gewonnenen Erkenntnisse über das Konzept Gesamtkunstwerk auf eine moderne Kunstform übertragen. Die Musik, die Musikvideos und die Selbstinszenierung der weltbekannten deutschen Band Rammstein rund um den kreativen Leadsänger Till Lindemann erwecken in mir die Assoziationen mit dem relativ alten kunsttheoretischen Konzept „Gesamtkunstwerk“, mit dem sich schon Richard Wagner ausgiebig beschäftigt hat.

Die Liedtexte der Band Rammstein sind philosophische, poetische und lyrische Meisterwerke! Das epochale Storytelling wird durch sehr wirkmächtige Bilder in aufwändigen Videoproduktionen auf einer weiteren Ebene unterstützt. Was „zwischen den Zeilen“ steht wird mit viel Freiraum für Interpretationen auf einer sichtbaren und imaginären Bildebene transportiert, die einen stark berührt und zum Nachdenken und Mitfühlen anregt. Jedes Musikvideo ist das Ergebnis kreativen Schaffens künstlerischer Genies aus den Bereichen Text (Philosophie , Poesie, Lyrik), Tanz (Schauspiel), Musik, Film, Ton, 3D Animation und Special Effects. Die Band Rammstein ist ein modernes Gesamtkunstwerk!

Der Begriff „Gesamtkunstwerk“ lässt sich bis zur Romantik zurückverfolgen. Grundlage der nachfolgenden Ausführungen ist der 510 Seiten lange Ausstellungskatalog zu einer Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ vom 28. Mai bis zum 10. Juli 1983. Die Zusammenstellung des Katalogs hat der schweizer Kurator und Ausstellungsmacher Harald Szeemann (*11. Juni 1933 Bern, Schweiz, †18. Februar 2005, Tessin, Schweiz) realisiert und ein Vorwort verfasst.

Wer auf der Suche nach einer kompakten Form der wichtigsten Theorien, Thesen und Aspekte des Konzepts „Gesamtkunstwerk“ ist, dem sei dieser Blogbeitrag empfohlen.

Auf Papier lesen?

Gesamtkunstwerk – ein paar Definitionen vorweg

Eine festgelegte, allgemein verbindliche Definition des Begriffs „Gesamtkunstwerk“ gibt es nicht. Das Wort „ist nicht nur in der Kunstliteratur zu einer beliebig verwendbaren Begriffshülse geworden.“ (Harald Szeemann, Ausstellungskatalog „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, Vorbereitungen, 1983)

„Das Ganze geben, den Zusammenhang mit dem Universum aufdecken oder ein geballtes Universum realisieren zu wollen, ist nur ein Hang, ein Bekenntnis, eine Obsession, ein Destillat aus Kunst und Erlösungswunsch. Das Gesamtkunstwerk gibt es nicht.“ (Szeemann)

Würden die Ganzheitsvorstellungen eines einzelnen Künstlers Wahrhaftigkeit beanspruchen und die Umsetzung dieser Vorstellungen in die Lebensrealität der Menschen erzwungen, dann würde das Konzept des Gesamtkunstwerks totalitär und das Kunstwerk selber in Totalitarismus ausarten (totalitärer Staat).

Bildende Künstler haben besonders in jungen Jahren einen Hang zum Gesamtkunstwerk. Dieser weicht aber später der Ausarbeitung eines persönlichen Stils. Ein Gegenmodell zu dieser These Szeemanns ist Joseph Beuys.

In Meyers Enzyklopädie 10, Mannheim 1974 heißt es: „Gesamtkunstwerk. Vereinigung von Dichtung, Musik, Tanz und bildender Kunst zu einem einheitlichen Kunstwerk. […] Während aber bei Wagner, entgegen seinem Programm, das Gesamtkunstwerk unter der Herrschaft der Musik stand, dominierte in verwandten Bestrebungen bei M. Reinhard und L. Dumont die Dichtung, im Bauhaus die Architektur. […]

Ursprung des Konzepts „Gesamtkunstwerk“

Die Idee des Konzepts „Gesamtkunstwerk“ lässt sich bis zur Romantik zurückverfolgen. Dort wird es namentlich zwar nicht erwähnt, jedoch sehnte man sich nach einem alles umfassenden Kunstwerk, der Vereinigung vieler Künste zu einem Gesamtkunstwerk. Die Musik galt den Romantikern als „noch viel Höheres denn die bildende Kunst“ (F. Schlegel). Man wollte nicht länger nur die Wirklichkeit kopieren, sondern vielmehr dem inneren Gemütszustand in den Kunstwerken Ausdruck verleihen.

Der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling vertrat diesen Gedanken der Musik als höchstes aller Kunstwerke. Er schreibt dazu „Wenn die drei Grundformen oder Kategorien der Kunst Musik, Malerei und Plastik sind, (ist) der Rhythmus das Musikalische in der Musik, die Modulation das Malerische […] und die Melodie das Plastische“.

Schelling erweiterte diesen Gedanken und entwarf ein philosophisches System, das Identitätssystem (1800-1805), welches die Wirklichkeit, in der der Mensch lebt, mit der Welt des Geistes und der Welt der ästhetischen Gebilde eng verknüpft. Schellings Ausgangspunkt ist die Gegensätzlichkeit von Natur und Geist; er hebt diese Grenze aber auf, indem er Natur und Geist, Reales und Ideales als identisch und die Wirklichkeit zum Gesamtesten aller möglichen Kunstwerke erklärt. Damit betrachtet Schelling die Wirklichkeit als ästhetisches Gebilde, reduzierte diesen Gedanken aber später zu einer „separierten ästhetischen Wirklichkeit“, um die Gefahren einer völligen Ermächtigung der Illusion abzumildern.

Nach der Kritik an dieser Theorie durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) sucht Schelling nach dem Kunstwerk, das sämtliche Künste in sich vereint und es dadurch wirklicher macht. Er schreibt dazu in seiner Vorlesung über die „Philosophie der Kunst“, Jena, 1803: „Ich bemerke nur noch, daß die vollkommenste Zusammensetzung aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie und Malerei durch Tanz, selbst wieder synthesirt die componirteste Theatererscheinung ist, dergleichen das Drama des Alterthums war, wovon uns nur eine Karrikatur, die Oper geblieben ist, die in höherem und edlerem Styl von Seiten der Poesie sowohl als der übrigen concurrirenden Künste uns am ehesten zur Aufführung des alten mit Musik und Gesang verbundenen Dramas zurückführen könnte.“ (F. W. J. Schelling, 1803)

Das Gesamtkunstwerk nach Richard Wagner

Diesen Gedanken griff Richard Wagner auf. Er war der Erste, der dieses Konzept des Gesamtkunstwerks mit seinen Musikdramen durchsetzte. Wie auch Schelling sieht Wagner im Drama die bestmögliche Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks, weil im Drama sämtliche Künste zusammenfließen. In seiner Publikation „Das Kunstwerk der Zukunft“ aus seinen „Zürcher Kunstschriften“ (1849) schrieb er:

„Das höchste gemeinsame Kunstwerk ist das Drama: nach seiner möglichen Fülle kann es nur vorhanden sein, wenn in ihm jede Kunstart in ihrer höchsten Fülle vorhanden ist.“

Nicht ein Mensch alleine kann ein Gesamtkunstwerk erschaffen, sondern nur durch das Zusammenwirken vieler spezialisierter Künstler kann ein Gesamtkunstwerk entstehen.

„Jede einzelne Fähigkeit des Menschen ist eine beschränkte; […] So hat denn auch jede künstlerische Fähigkeit des Menschen ihre natürlichen Schranken, weil der Mensch nicht [nur] einen Sinn, sondern Sinne überhaupt hat. Jede Fähigkeit leitet sich aber nur von einem gewissen Sinne her; an den Schranken dieses Sinnes hat daher auch diese Fähigkeit ihre Schranken. Die Gränzen der einzelnen Sinne sind aber auch ihre gegenseitigen Berührungspunkte, die Punkte, wo sie in einander fließen, sich verständigen: gerade so berühren, verständigen sich die von ihnen hergeleiteten Fähigkeiten. Ihre Schranken heben sich daher in der Verständigung auf, nur was sich liebt, kann sich verständigen, und lieben heißt: den anderen anerkennen, zugleich also sich selbst erkennen; Erkenntnis durch die Liebe ist Freiheit, die Freiheit der menschlichen Fähigkeiten – Allfähigkeit. Nur die Kunst, die dieser Allfähigkeit des Menschen entspricht, ist somit frei, nicht die Kunstart, die nur von einer einzelnen menschlichen Fähigkeit herrührt. Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst sind vereinzelt jede beschränkt; […]“

„Jede einzelne Kunstart vermag der gemeinsamen Öffentlichkeit zum vollen Verständnisse nur durch gemeinsame Mitteilung mit den übrigen Kunstarten im Drama sich zu erschließen, denn die Absicht jeder einzelnen Kunstart wird nur im gegenseitig sich verständigenden und verständnisgebenden Zusammenwirken aller Kunstarten vollständig erreicht.“

Das Gesamtkunstwerk – eine Theorie von Bazon Brock

Das Gesamtkunstwerk

Alle Kulturen haben eines gemeinsam: Sie versuchen ihren Mitgliedern die Erfahrung der Einheit der Welt zu ermöglichen. Jedoch sind die Vorstellungen dieser Kulturen vom „großen Ganzen“ recht unterschiedlich.

Unübersehbare Gemeinsamkeiten in der Vorstellung europäischer Kulturen vom „Ganzen“ stellen die gothische Kathedrale, die Institution „Universität“ und die Idee des „Staates“ dar, sowie „die Einheit der Welt als Schöpfung des Christengottes, als Wirkungsfeld der Naturgesetze und als Schöpfung der Menschen.“

Bestimmte Individuen können sowohl in ihrer Persönlichkeit, als auch in ihren Handlungen Träger solcher Ganzheitsvorstellungen sein. Z.B. Der Heilige, das künstlerische bzw. wissenschaftliche Genie und der politische Führer. Sie werden zwar nicht als Universalmenschen im Sinne der Renaissance – als alles Wissende, alles Wollende und alles Könnende verstanden, dennoch bestimmt man ihre Bedeutung danach, inwiefern sie in der Lage sind, einen übergeordneten Zusammenhang zu konstruieren, diesen auf sich zu übertragen und andere dieser Idee zu unterwerfen. Deshalb erscheinen sowohl sie, als auch ihre Anhänger als sonderbar, d.h. als von einer Obsession (Besessenheit) Beherrschte.

Das Konzept „Gesamtkunstwerk“ ist in erster Linie durch Obsession der Individuen gekennzeichnet, mit der sie versuchen „das Bild vom Ganzen, die persönliche Verkörperung des Ganzen und die allgemeine Unterwerfung unter das Ganze“ zu realisieren. Michelangelo entwarf zwar eine zu seiner Zeit revolutionäre Vorstellung vom Ganzen (Künstler) – das Deckenfresko des Jüngsten Gerichts in der sixtinischen Kapelle in Rom – er verköperte diese Gedanken auch (Heiliger), aber er blieb weit davon entfernt die Unterwerfung der Anderen unter seine Visionen zu erzwingen (politischer Führer). Ludwig XIV repräsentierte zwar die Unterwerfung des Einzelnen unter den Staat und verkörperte dies auch, aber er hat in keinerlei Hinsicht eigene, neue Vorstellungen vom Ganzen entworfen. Es ist unmöglich Künstler, Heiliger und politischer Führer in einer Person zu sein.

artchive.com sixtinische kapelle judgement day

(c) artchive.com – Der Tag des jüngsten Gerichts, Deckenfresko in der Sixtinische Kapelle in Rom

Nur Jesus und Buddha scheint es gelungen ein Bild des Ganzen zu konstruieren und diese Gedanken auf das eigene und das Leben anderer zu übertragen, ohne totalitär zu werden.

Das Konzept „Gesamtkunstwerk“ ist damit nicht nur den Künstlern vorbehalten, die ein Kunstwerk als Resultat aus (geistiger) Schöpfung und Arbeit erschaffen. Man spricht auch von der Heilkunst, Kochkunst, Kriegskunst, etc.. Somit kann sich das Konzept eines Gesamtkunstwerks beim Politiker als politisches Ideengebäude (Ideologie), bei einem Unternehmer als ein ausgeklügeltes System ökonomischer Prozesse, bei einem Wissenschaftler als ein bahnbrechendes Forschungsergebnis oder eine revolutionäre Erfindung und bei einem Künstler als Vision offenbaren.

Ein Gesamtkunstwerk ist folglich ein „gedankliches Konstrukt übergeordneter Zusammenhänge bildlicher oder epischer Vorstellungen“, wissenschaftlicher Systeme oder politischer Utopien.

Es ist ein Missverständnis zu glauben, man habe das Ganze zur Sprache gebracht, wenn man sich gleichzeitig sämtlicher Medien und kultureller Techniken bediene. Auch ein Gemälde kann die Konzeption eines Gesamtkunstwerks entwickeln. Entscheidend ist, ob ein Werk das Konzept „Gesamtkunstwerk“ thematisiert, indem es dem Betrachter ermöglicht einen übergeordneten Zusammenhang zu erfahren. Das Konzept „Gesamtkunstwerk“ ist mit der Entdeckung verbunden, dass auch ein monomediales Kunstwerk (Gemälde, Skulptur, Musikstück, …) alle sinnlichen und intellektuellen Wahrnehmungen stimuliert, auch wenn scheinbar nur ein Sinnesorgan angesprochen wird. Beispiel: Bilder, die einem in den Kopf kommen, wenn man Musik hört.

Was aber ist „das Ganze“?

„Das Ganze“ ist ein zur Sprache gebrachtes „Konstrukt des menschlichen Denkens“ – eine „mythische Erzählung“. Das Ganze zu denken und zur Sprache zu bringen stellt nur eine der drei Stufen zum Gesamtkunstwerk dar. Das Ganze zu verkörpern und in die eigene Lebensrealität aufzunehmen (wie ein Heiliger) ist die zweite Stufe. In der dritten Stufe entsteht das Verlangen, möglichst viele der einen richtigen Wahrheit zu unterwerfen. Gerade die letzten beiden Stufen unterscheiden das Konstrukt des Gesamtkunstwerks als Totalkunst und Totalitarismus.

Totalkunst

„Totalkunst stellt die Frage ‚Was soll das Ganze?‘ und antwortet: Es soll Kultur ermöglichen, ohne die Verbindlichkeit durch totalitäre Gewalt zu erzwingen.“ (S.24)

Sie beschränkt sich auf einen konkret vorgegebenen Raum. Das kann eine Leinwand sein, ein Atelier, eine Bühne oder ein anderes Medium. Der Raum wird mit dem hypothetischen Gedankenkonstrukt vom übergeordneten Ganzen aufgeladen, hat aber keinen Wirklichkeitsanspruch. „Totalkunst radikalisiert die Beziehung zwischen Fiktion und Realität.“ (S.28) Sie will demonstrieren, welche Konsequenzen sich aus einer totalen Umsetzung der Idee des Gesamtkunstwerks in die Lebensrealität der Menschen ergäben.

Die Kultur muss zwischen hypothetischem Konstrukt und tatsächlicher Wirklichkeit vermitteln, „weil beide nicht identisch sein und auch nicht als identisch behauptet werden dürfen.“ Dies aber hat Schelling getan, indem er in seinem Identitätssystem die Wirklichkeit zum Gesamtesten aller Kunstwerke erklärte. Das ist der Hauptkritikpunkt Hegels an Schellings Identitätssystem.

Totalitarismus

Für ein Individuum ist es unmöglich in seiner Person und Rolle die Einheit von Denken, Wollen und Können zu verwirklichen. Wo das aber dennoch versucht wird, wird die Obsession zur Gewalt gegen andere. Sie wird totalitär, wie es im dritten Reich unter Adolf Hitler geschah, unter Josef Stalin in Russland, oder unter anderen Diktatoren, die ihr eigenes politisch-ideologisches „Ideengebäude“ mit totalitären Mitteln in die Lebensrealität des Volkes durchzusetzen versuchten.

Sobald versucht wird diese konstruierte Wirklichkeit als allgemein verbindliche Handlungsanleitung durchzusetzen wird das Kunstwerk totalitär. Ein totalitäres Konzept von Gesamtkunstwerken stellt „die rhetorische Frage ‚Wollt Ihr das Ganze?‘ Die Antwort steht schon fest und kann nur noch rituell bestätigt werden: Der Ritus ist die vollziehende Unterwerfung unter den Mythos als anonymer Repräsentanz des übergeordneten Ganzen. […] Weder darf Ritus nur ein praktischer Vollzug des Mythos, noch der Mythos verfestigtes Bild des Ritus sein.“ (S.24)

Das totalitäre Kunstwerk versucht die Realität der Menschen nach dem konstruierten Bild des Ganzen zu formen.

Für das Gesamtkunstwerk ist das Werk selber Träger des Anspruchs auf Darstellung eines übergeordneten Zusammenhangs (des Ganzen). Für die Totalkunst ist der Künstler der Träger seiner Ganzheitsvorstellungen. Der Totalitarismus betrachtet die Massen als Träger des Gesamtheitsanspruchs, weil ja die Utopien im Leben der Massen verwirklicht werden sollen.

Das Gesamtkunstwerk – eine Theorie von Odo Marquard

Ein Gesamtkunstwerk darf nicht als die bloße multimediale Verbindung aller Künste in einem Kunstwerk betrachtet werden, sondern vielmehr als die Verbindung von Kunst und Wirklichkeit. „Zum Gesamtkunstwerk gehört die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität.“ (Bei Brock: Radikalisierung zwischen Fiktion und Realität). Ein Gesamtkunstwerk hat mindestens drei historische Voraussetzungen:

Erste Voraussetzung

Durch die Trennung vom „mechanischen“ Artefakt wird das Kunstwerk empathisch und ästhetisch. Das ist ein Vorgang des ästhetischen Zeitalters (in Gegenden, wo seit 1750 die „philosophische Ästhetik“ erfunden wurde). Unter den Bedingungen des Protestantismus (Gnade Gottes „sola gratia“ und eigener Glaube „sola fide“) äußerten die Reformatoren Zweifel an der Heilsrelevanz der „guten Werke“. Deswegen wurden sie aus dem religiösen Kontext in den ästhetischen übertragen, um die Heilsrelevanz zu erhalten.

Zweite Voraussetzung

Der Begriff des „Gesamten“ wird durch einen neuen Begriff abgelöst.

Im 18. Jhd. gerät Gott und seine Schöpfung als Begriff für das Gesamte in Zweifel und an den Menschen als (Gesamt-)schöpfer seiner (Gesamt-)wirklichkeit wird wegen seiner fehlenden Allmacht nicht geglaubt. Deswegen musste ein neuer Begriff her, den der Zwiespalt – Gott oder Mensch als Schöpfer der Wirklichkeit – nicht störte: Der Begriff des „Systems“. Dieser Begriff hatte seinen Hochpunkt zur Zeit der philosophischen Geistesströmung des „deutschen Idealismus“ (Fichte, Hegel, Schelling).

Dritte Voraussetzung

Die ersten beiden Voraussetzungen müssen fusionieren. Das System muss zum Kunstwerk werden und das Kunstwerk zum System. „Wo die Realschöpfer – Gott und Mensch – mit dem Gesamtsystem Schwierigkeiten haben ([…]), treten die phantastischen Schöpfer auf den Plan: die Künstler; sie springen dann ein als Gesamtleute für das Gesamte, so daß das Gesamte – das System – nun ästhetisch als Kunstwerk definiert wird und […] auch konkret nach jenem Kunstwerk gesucht wird, das das Gesamte ist.“ (S.40/41)

Marquard stellt folgende These auf, die er selbst als riskant und abenteuerlich bezeichnet:

„Die Idee des Gesamtkunstwerks beginnt mit dem ‚ästhetischen‘ System des deutschen Idealismus, dem ‚Identitätssystem‘ (IV 113; X 107) von Schelling; und die Kritik an der Idee des Gesamkunstwerks beginnt mit Hegels Kritik an Schellings Identitätssystem.“

Er macht den Vorschlag, Hegels Schellingkritik (in der Vorrede zu Hegels Werk „Die Phänomenologie des Geistes“, 1807) als erste Kritik an der Idee des Gesamtkunstwerks zu verstehen und Schellings Identitätssystem als Teil der Geschichte des Gesamtkunstwerks zu betrachten.

Marquard kommt zu dem Schluss: „Nicht mehr die Wirklichkeit selber ist das Kunstwerk, sondern das Kunstwerk seinerseits will die Wirklichkeit werden.“ Dazu vereint das Gesamtkunstwerk die Kraft aller Einzelkünste, bzw. die Kraft der Zerstörung aller Einzelkünste, in einem Kunstwerk.

Marquard unterscheidet vier Ausprägungen des Gesamtkunstwerks, sagt aber, dass es durchaus noch mehr Ausprägungen geben könne.

Das direkte positive Gesamtkunstwerk (1. Ausprägung)

Dies ist das von Wagner gesuchte Gesamtkunstwerk. Es ist die Vereinigung aller Einzelkünste zu einem Kunstwerk, um dadurch die Dignität (Anerkennung, Würde) der Wirklichkeit zu gewinnen.

Wagner meint, dass das große griechische Gesamtkunstwerk – die Tragödie – in seine Einzelkünste zerfallen ist. Es muss nun wiedergeboren werden, jedoch diesmal nicht als „hellenische“, sondern als „menschliche Kunst“, durch die Wiedervereinigung der Tanzkunst, Dichtkunst, Tonkunst mit Hilfe der Baukunst, Bildhauerkunst und Malerei zum „wahren Drama“, dem „allgemeinsamen Kunstwerk der Zukunft“. Das direkte positive Gesamtkunstwerk vereint die Kraft aller Künste, um so zur Wirklichkeit zu werden.

Das direkte negative Gesamtkunstwerk (2. Ausprägung)

Dieses versucht die Dignität (Anerkennung, Würde) der Wirklichkeit zu gewinnen, indem es alle Einzelkünste in einem Antikkunstwerk zerstört. Das war jenes Gesamtkunstwerk, das die Futuristen, Dadaisten und Surrealisten gesucht haben. „Es geht darum, […] mit den Einzelkünsten die Trennung von Kunst und Wirklichkeit zu zerschlagen.“ Die Sprengung der herrschenden Wirklichkeit durch die Sprengung der Künste „etabliert die revolutionäre Wirklichkeit.“ Sie proklamieren den „Kommunismus des Genies“. Es kommt ihnen „nicht so sehr darauf an, Kunstwerke zu produzieren: vielmehr wird die Gruppe sich selber zum Kunstwerk, die Kunst zu einer kollektiven Angelegenheit, deren stets fluktuierendes Resultat die surreale Gesellschaft wäre“ (Elisabeth Lenk).

Darin besteht eine Ähnlichkeit zur Intention Wagners, der in seiner Publikation „Das Künstlertum der Zukunft“ (1849) schrieb: „das Genie wird nicht mehr vereinzelt dastehen, sondern alle werden am Genie tätig teilhaben, das Genie wird ein gemeinsames sein“.

Das indirekte extreme Gesamtkunstwerk (3. Ausprägung)

Dies ist jenes Kunstwerk, das nicht auf Kunstwerke jenseits der Wirklichkeit aus ist, sondern auf die Wirklichkeit selber, aber nur einen Teil der Wirklichkeit ästhetisch sieht oder inszeniert, den extremen Teil, den Ausnahmezustand.

Walter Benjamin schreibt im Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935): „In den großen Festaufzügen, den Monsterversammlungen, den Massenveranstaltungen sportlicher Art und dem Krieg, die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht […] Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben. Er läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. […]. Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik konvergieren in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg.“

Benjamin schließt daraus: „So steht es mit der Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst“.

Das indirekte nichtextreme Gesamtkunstwerk (4. Ausprägung)

Dies ist der Trend zu einem neuen Identitätssystem und der erneute Versuch die gesamte nicht-extreme Wirklichkeit (ihren Normalzustand) zu ästhetisieren. Schon Nietzsche schreibt, dass „nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist“. Diese Erkenntnis hat Nietzsche auf Grund der Überlegungen Arthur Schopenhausers gewonnen. Nietzsche kam von Schopenhauer, der mit seiner pessimistischen Variante des Identitätssystems („Die Welt als Wille und Vorstellung“, 1819) die Erscheinung der Welt als ein Theaterspiel betrachtet, wie auch schon Shakespeare in seiner 1623 erschienenen Komödie „As you like it“. Darin lässt er den getreuen Diener Lord Jacques über die Welt philosophieren „All the world’s a stage, and all the men and women merely players“. Diesen Gedanken übernahmen auch die heutigen Soziologen für ihre Rollen-Soziologie, die davon ausgehen, dass jeder Mensch zu jeder Zeit eine Rolle spielt. Die Rolle des Ehemanns, die Rolle des Familienvaters, des Freundes, des Liebhabers und so weiter.

Im 19. Jahrhundert entstehen die Museen als Ausstellung der vergangenen Geschichte und seit 1851 auch Museen des Zukunftswillens der Kunst wegen. Zeitgleich entstehen der Großhandel, das Kaufhaus als „künstliches Paradies der Damen“ und überhaupt wird die Wirklichkeit immer mehr geplant und unempathisch durchästhetisiert. Dadurch läuft man Gefahr, die Wirklichkeit erneut zu einem integrierten Gesamtkunstwerk zu machen.

Das Ästhetische wird nicht problematisch, weil es zu unwirklich ist, sondern es wird dort unerträglich, wo Kunst und Wirklichkeit gleich gesetzt werden. Da wo Kunst (die Illusion) eins wird mit der Wirklichkeit, wird die Wirklichkeit auch zur Illusion. Dann hat die Kunst zwar alles mit der Wirklichkeit, die Wirklichkeit aber nichts mehr mit sich selbst zu tun.

Schluss

Wegen dieser Gefahr der „Ermächtigung der Illusionen“ hat Hegel das Identitätssystem Schellings kritisiert. Marquard schließt seine Überlegungen mit dem Hinweis auf zwei „einschlägige Phänomene“, die für die Entwicklung des Gesamtkunstwerkkonzepts nicht ohne Bedeutung blieben.

Das eine Phänomen ist die Überkompensation des identitätssystematischen Differenzdefizits. Das Identitätssystem verdrängt im Namen der Identität den Unterschied zwischen Illusion und Wirklichkeit. So sieht das auch Hegel.

Dieser verdrängte Unterschied kehrt als das Esoterische zurück. „Denn das Esoterische ist empathisch Unterschied: zum Gewöhnlichen, zum Alltäglichen, zum Allgemeinen. ‚Die Philosophie‘ – schreibt Schelling im Bruno – ‚ist notwendig ihrer Natur nach esoterisch‘.“ Im Gesamtkunstwerk gibt es demnach einen latenten Esoterismus.

Das zweite Phänomen „ist die Überkompensation des identitätssystematischen Geschichtsdefizits.“ Das Identitätssystem verdrängt im Namen des Systems die Geschichte. So sieht das auch Hegel.

Diese verdrängte Geschichte kehrt prekär als das Mythische zurück, „denn das Mythische ist das prekär Geschichtliche.“ Schelling fordert im ältesten Systemprogramm eine neue Mythologie und erklärt die Mythologie zum Stoff der Kunst. Jeder soll „von dieser noch im Werden begriffenen (mythologischen) Welt […] sich seine Mythologie schaffen“.

„Gleichwohl bleibt die weitere Geschichte des Gesamtkunstwerks in all seinen Gestalten durch diese Tendenz zum Mythos […] geprägt: es gibt […] im Gesamtkunstwerk einen manifesten Mythismus.“

Fazit

Die Band Rammstein erfüllt mit ihrem künstlerischen Schaffen sämtliche Kriterien, die in den Überlegungen zur Definition des Gesamtkunstwerks von Richard Wagner, Bazon Brock und Odo Marquard aufgeführt sind.

Die bei Richard Wagner vorwiegende höchste Fülle aller Kunstarten, der Entwurf eines Konzepts vom „großen Ganzen“ und die Verkörperung dieser Idee durch die Individuen (Bazon Brock) machen Rammstein zu einem Gesamtkunstwerk und Totalkunst. Da die Masse nicht gezwungen wird, sich diesen Vorstellungen zu unterwerfen, entbehrt das Gesamtkunstwerk Rammstein totalitaristischer Kriterien.

Das Musikvideo zu dem Stück „Deutschland“ auf dem unbetitelten Studioalbum Nummer 7 hat seit seiner Erstveröffentlichung am 28. März 2019 – in rund 3,5 Jahren – mehr als 266 Millionen Views auf YouTube erhalten. Dieses Video entwirft mit einer Geschichte durch Raum und Zeit in besonderem Maße eine Vorstellung vom „großen Ganzen“.

In den Musikvideos von Rammstein wird mit allen Einzelkünsten die Trennung von Kunst und Wirklichkeit zerschlagen, was Rammstein nach der Theorie von Odo Marquard zu einem „direkten negativen Gesamtkunstwerk“ (2. Ausprägung) macht.

Quellenangaben

Die besten Rammstein Musikvideos

Und hier muss man auch mal zwischen den Zeilen lesen können 🙂

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